Die Orchidee und der Wolff

Kurzgeschichten

Barroom


Serge drehte das pokalförmige Glas vor seinem Gesicht und zog seine buschigen Brauen zusammen. Er polierte den Glasrand. Er sah so konzentriert aus - bei der Arbeit immer und privat nie. Er lächelte ein Lächeln wie ein Wolf. Bereits als Kind hatte er das getan.
„Wie ist die Maracuja?“, fragte er und lächelte, ich nickte nur, denn er kannte mich. Ich saß nach der Arbeit im Barroom und er sagte: „Wer sitzt schon alleine am Tresen, Mann?“ Er schüttelte den Kopf. „Nichts Besseres zu tun?“ Ich senkte nur den Blick. „Gibt es nicht, oder was? Dass man sich alleine betrinkt? Außerdem - was ist mit dir? Ich bin hier bei dir. Ist das nichts?“ Er sagte tonlos: „Ich muss arbeiten.“ Und dann: „Einsame Menschen betrinken sich einsam.“ Ich sagte leise: „Ach, du Lyriker. Heb dir das für deine Ladys.“ Er sagte: „Nein, jetzt mal ehrlich, Mann. Nur einsame Menschen gehen alleine in Bars.“ Er blickte auf und zwinkerte: „Und ins Bett.“
Ich bin Egon, Junggeselle, glücklich und reinlich. Mein Unterbewusstsein ist gläsern. Mein zuverlässiges Laster der Alkohol.
 Serge reichte mir Ananas und einen dritten Ron Millonario, meinen liebgewonnen Rum. Weich legte er sich auf meine Zunge und warm streichelte er meine Kehle; auch mein Blick wurde warm. Mich schwindelte und ich lächelte. 
Während Serge anschließend Limetten wusch und sie dabei tätschelte, wie kleine Hundewelpen, fuhr mir die kalte Luft an den Nacken, denn der glatzköpfige Chef kam herein getreten, mit einem Kompagnon an seiner Seite. Der Chef nickte in unsere Richtung und verschwand über drei Stufen nach oben in sein Büro hinter der Bar. Er knallte die Tür, aber sie sprang mit einem Klack wieder auf. Zunächst Gemurmel. Dann Wortfetzen; eine kalte Stimme: „Verdammt“. Ein Leiseres: „vierundzwanzig Stunden, Mann - konstante Temperatur, wie besprochen!“ - oder so. Gemurmel. Serge reichte mir einen Ron Millonario und klatschte hart auf den Tresen. „Was treibst heute noch?“, fragte er und drehte sich weg. Ich sagte nur „Schschsch…“, und er klimperte mit den Gläsern wie zum Empfang. 
Der Schwindel packte mich plötzlich wie eine Welle, ich hielt mich wankend am Tresen fest. Dumpfes Gemurmel aus dem Büro und in meinem Kopf. Ich hob blind die Hände: „Schschsch….“ Serge guckte scheinbar verständnislos zwischen meinen zugekniffenen Augen und hinter seinen buschigen Brauen hervor. „Waaas?“ Pause. „Häh?“ Er hob die Hände zum Kampf und ich lachte verwirrt auf. Bevor ich über seine Reaktion nachdenken konnte, sagte der Chef zu laut: „Vergiss die Niere nicht! Idiot!“ 
Der Kompagnon trat mit einer weißen, nierenförmigen Box zwischen seinen haarigen Armen geklemmt und schnellen Schrittes um die Ecke. Er war breit und kurz und lief o-beinig über die Stufen, stolperte am Absatz und fiel bäuchlings über den Fliesenboden wie ein nasser Bär, während die Box leise klirrend zu Boden ging. Ein zähes Piepen durchzog den Raum, das ich zunächst bedenklich nah an meinem Kopf ortete.
Was dann passierte war seltsam und irgendwie verdächtig: Der Kompagnon sprang zurück auf seine kurzen Beine, vor meinen Augen drehte er sich als Doppelbild, er drehte sich tatsächlich hektisch von rechts und links, grabschte sich dann gierig die weiße Niere und knallte mit seinem Schienbein gegen einen Barhocker, um dann samt dem Piepen blind und verstört in die dunkle Nacht zu verschwinden. Ich starrte auf die Eingangstür, die sich nur langsam schloss und dann wieder öffnete, denn die ersten Gäste kamen.  
Ich wollte sagen: Das war seltsam! Doch als ich mich zu Serge umwandte, blickte ich nur in zwei runde feuchte Welpenaugen und deshalb sagte ich gar nichts und plötzlich war mir kalt. 
Ich schüttelte mich wie ein nasses Tier. Mir war danach aufzustehen und zu gehen. Um die Stille zu brechen, wollte ich sagen: Oh Mann, ist das kalt hier, was, Serge?, doch in der Nische zwischen Büro und WC erkannte ich plötzlich den Schatten des reglosen und stummen Chefs, und ich merkte meine pochenden Schläfen. Die Augen des Chefs leuchteten lebendig und wissend und irgendwie warnend in unsere Richtung und verschwanden anschließend wieder im Büro. Serge legte seine harte Hand auf meine, drückte kurz zu, ließ seine Gäste und mich zurück und folgte seinem Chef. Die Tür klackte ins Schloss. Nick Cave setzte ein.
Die Gäste hinter mir wisperten zu Where the wild roses grow. Ich entschlüsselte es - sie hatten einen gefährlichen Plan. Ich verwarf diese Idee. Ich fühlte mich schwerelos und verlor die Bodenhaftung. Ich dachte an Serge. Er zerplatzte mitsamt einer Blase vor meinem inneren Kind. Ich verabscheute mich und den Zustand, in dem ich mich gerade befand. 
Im WC-Spiegel blickte mir ein verunsicherter Mann entgegen. Die Emotionen waren ihm wie ins Gesicht geschnitten. Der Mann war blass und seine Lippen zu seinem harten Strich gepresst. Er sah aus wie ein Mensch, der soeben versagt hatte. Er sah nicht aus wie ich.
Als ich aus dem WC trat, zuckte meine Hand Richtung Bürotür, doch ich wandte mich ab und betrat erneut die kleinste Bar Münchens, über drei Stufen hinunter in eine andere Zeit. 
Der Raum leuchtete plötzlich in Sepiatönen, die Flaschen hinter dem Tresen schimmerten gülden. Der Barroom hatte sich mittlerweile gefüllt. Ich blickte in befriedigte Gesichter. Behutsam träufelte Serge gerade einen bräunlichen Nektar in das nach unten spitz zulaufende Glas vor ihm. Der Schaum im Glas vibrierte leise bei dieser Berührung. Grüne Limettenstreifen, fein wie Babyhaar, schmückten anschließend die Oberfläche. Der Jazz schwappte in meinen Ohren wie Wasser und ließ mich genüsslich aufjauchzen, während ich ein weiteres Glas Ron Millonario verzehrte, das mir Serge nach meiner Rückkehr mit bestechendem Blick sofort hingestellt hatte. Über mir gaben die mattierten Art-Déco-Glaslampen meinen zuckenden, neonbleichen Fingern Licht und eine warme Färbung. 
Der Chef betrat den Raum. Er hatte eine Präsenz, die mich erschreckte. Seine Augen blitzten wie polierter Stahl. Er stellte Gästen am Tisch hinter mir alle verfügbaren Ginsorten und deren Herkunft und Geschmacksnuancen vor. Sein akkurater und harter Akzent hallte wie ein Echo in meinem Kopf.
Ich zeigte auf das lila Getränk vor Serge. „Was ist damit? Das möchte ich.“ Er schüttelte langsam den Kopf: „Das geht nicht.“ Dann hob er das Glas auf die Theke und stellte es vor einen Mann, den ich bisher nicht beachtet hatte, da ich ihn nicht bemerkt hatte. Der Mann war blass und irgendwie wächsern. Er sah aus wie jemand, der gerade versagt hatte. Er sah einsam aus.
Ich starrte ihn an, in der Hoffnung, er würde mich ansprechen. Stattdessen spürte ich die Blicke von Serge. Als der blasse Mann neben mir an seinem Cocktail nippte, leuchtete die Flüssigkeit hell auf. Während er größere Schlucke nahm, ohne das Glas einmal abzusetzen, fuhr ein Scheinwerfer aus dem Nichts in den Cocktail hinein, für einen winzigen Augenblick nur und um alle Farben des Regenbogens freizulegen; ich wich geblendet und glücklich zurück.
 Der Fremde stellte das Glas wieder ab. Eine schlammfarbene Restbrühe schwamm darin, die nichts mit dem Strahlen des Cocktails gemein hatte. Der Fremde verschwand anschließend zügig auf dem WC. 
Ich beugte mich vor zu Serge: „Alles klar bei dir?“ „Was sollte sein?“, sagte er trotzig. Er wandte sich ab und reinigte die Ablagefläche. Ich sagte: „Alter, hör mir doch mal fünf Minuten zu.“ Serge drehte sich ruckartig in meine Richtung. „Was ist dein Problem? Ich sagte doch, nur einsame Menschen kommen alleine. Ich hatte es dir gesagt, oder nicht?“ Ich verstand nicht. Ich beobachtete Serge, wie er mit spitzer Klinge und fester Hand eine Limette in hauchfeine Scheiben schnitt. Er beugte sich förmlich nach rechts und lachte mit einem Gast mit, als der ihm etwas zurief. 
Nach einiger Zeit kam der Durst zurück, doch keiner beachtete mich. Ich starrte auf die schlammfarbene Restbrühe im Glas meines Sitznachbarn, der nicht mehr zurückgekehrt war, wie mir plötzlich klar wurde. Ich hatte das Zeitgefühl verloren. Ich schielte zur WC-Tür, dann stand ich neben dem leeren Klosett. Bei genauerem Hinsehen umrahmte eine feine Linie einen türgroßen Bereich der Fliesen, eine Art Tapetentür, die ich mit meinen Fingernägeln aufhebelte.
Ich befinde mich in einem weißgekacheltem Raum – ODER BILDE ICH ES MIR EIN? Es riecht nach Krankenhaus und Blutspuren ziehen sich passend dazu über den hellen Boden – ODER BILDE ICH ES MIR EIN? Mein Kopf schreit Unverständliches. Mein einsamer Sitznachbar liegt nackt, blass und flach -aber ruhigatmend- vor mir. Seine Augen sind geschlossen. Meine Augen sind trocken und brennen vom Licht. An seinem Körper hängt ein Tropf. Das beruhigt mich. Sie versuchen ihn zu retten. Mein Körper hingegen wird plötzlich schwer wie Blei und droht zu versinken. Über die rechte Flanke meines einsamen Sitznachbarn führt eine pulsierende, klaffende Wunde. Ich wache in meinem Bett auf, ein taubes Gefühl zieht sich durch meine Schädeldecke. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. 

Ich wählte die Tram zur Arbeit für die darauffolgenden Wochen, da ich mir ständig Wasser in den Mund kippen musste, wie verkatert, und neuerdings traf mich noch dazu ein unerfindlicher Verfolgungswahn, der mich an öffentliche Plätze jagte. Ab und zu dachte ich an Serge. Ab und zu dachte ich an das Gefühl, das mich überkommen hatte beim Anblick des glühenden Cocktails meines einsamen Sitznachbarn. Und ich vermisste dieses Gefühl, ich vermisste das Glück.  
Ich glaubte nicht an Magie, das sagte ich mir sehr oft, und dann lachte ich laut aus mir heraus und weinte innerlich mit. Ich schaute nicht in den Spiegel, während ich meine Zähne putzte. Dann putzte ich meine Zähne gar nicht mehr. Ich fasste mir nicht ins Gesicht. Ich befürchtete, es wäre aus Wachs.
Ich machte mir Sorgen um Serge oder um mich, ich wusste es nicht. Und dann traf ich ihn wieder, meinen einsamen Sitznachbarn, und ich hörte mein Inneres laut und deutlich aufjauchzen und dann leuchten wie das Glück. Er stand vor mir in der rumpelnden Tram, ein blonder Typ mit dunklem Blick und gar nicht einsam, denn er trug einen Gitarrenkasten bei sich. Seine enge Jacke saß ihm auf den Hüften und rutschte nach oben, als er seinen Arm Richtung Stange streckte, um Halt zu bekommen. Ich starrte auf seine rechte Flanke - ein sauberer Schnitt, eine frische Narbe. Als er seinen Kopf drehte, erkannte ich sein Profil. Es war viel klarer, als im Barroom damals, wie gezeichnet mit einem harten Kohlestift, eine fein gebogene Nase, spitze Lippen und Augen wie Onyx. 
Ich bewegte mich auf den Fremden zu, wie im Tanz, in Trance, neckisch zuckte ich mit meiner Hand Richtung Wunde, denn ich wollte sie spüren, ich konnte sie lindern und ich klappte den Mund auf, um ihm genau das zu sagen, als ich irritiert Salz schmeckte und schluckte. Der Schweiß lief mir über die Lippen und ich lachte unkontrolliert auf. Ich nässte mich ein und war ein Baby. Und plötzlich krachte ich zusammen, denn meine Beine trugen mich nicht mehr. Ich knallte auf meinen rechten Arm und meinen Schädel, hörte es knacken und blieb liegen. Mein dröhnender Kopf dröhnte mit den Motoren der Straße und den knirschenden Rändern der Tram. Vor mir standen zwei Beinstumpfen, wie die Beine des Kompagnons vom Chef, aus einem anderen, schöneren Leben, wie mir schien - schlammige Schuhe und der Geruch nach Moor, in der Ferne der Geruch nach Urin. 
  

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